BERLINER ARBEITSGEMEINSCHAFT DER SOZIALREFORMER
6.X.1953.
Protokoll zur Sitzung am 5.
Oktober 1953.
Die Sitzung findet in der
Wohnung von Herrn Kortmann statt; es sind alle Mitglieder anwesend.
Es wird die Frage eroertert,
ob fuer denjenigen Wirtschaftskreis, der das Gold als Wertmesser beibehalten
will, nicht grosse Wirtschaftsschwankungen entstehen koennen, wenn die
Goldproduktion erheblich schwankt. Ferner wird die Frage aufgeworfen, ob nicht
die nach der Entdeckung Amerikas i.J. 1492 einsetzende, erhoehte Edelmetall
Produktion mit ihren von Zeit zu Zeit stattfindenden, starken Rueckschlaegen
Beispiele dafuer bietet, dass diese Besorgnis gerechtfertigt ist.
Die Eroerterung ergibt
folgendes:
Wenn Anweisungen, Noten,
etc. nicht in Gold einloesbar sind, trotzdem aber einen moeglichst stabilen
Goldwert haben sollen, so kann dies nur durch den Geldmarkt erreicht werden. Hier sind die Erfahrungen
der Inflationszeit wertvoll. Ob damals der Goldwert des Papiergeldes an der
Boerse auf Grund eines Umsatzes von einem Kilo Gold oder von 100 Kilo Geld
ermittelt wurde, das hatte auf den Goldwert so gut wie keinen Einfluss. Die
Geschaeftswelt nahm den bekannt gemachten Goldpreis als Index
widerstandslos (und mit Recht) an. So wird es vermutlich auch in Zukunft sein.
Ob viel Gold umgesetzt wird oder wenig, ist fast gleichgueltig. Wenn
Goldmuenzen erlaubt sind, so wird der Goldpreis noch viel stabiler sein, als
da, wo sie verboten sind. Wenn einem Goldbesitzer zu wenig fuer sein Gold
geboten wird, so schickt er einfach sein Gold in eine Praegeanstalt, laesst
typisierte Goldbarren (Muenzen) daraus praegen, und die unguenstigen
Kaufangebote sind gegenstandslos. Steigen aber die Goldstuecke oder die
Goldbarren sehr im Preise, den letzteren in Papier ausgedrueckt, so muss normalerweise eine Nachfrage nach dem relativ
billigen Papier einsetzen, ausgehend von den Schuldnern, welche dieses Papier
zum Nennwert in Zahlung geben koennen. Wuerden also in Berlin etwa Senatsnoten
im Verhaeltnis zu Goldstuecken billig werden, so werden die Steuerzahler die
billigen Senatsnoten kaufen oder entleihen und ihre Steuern damit bezahlen.
Werden Noten einer Ladengemeinschaft billig, so interessieren sich Hausfrauen
und andere Kaeufer dafuer; sie werden etwa fuer 95 Senatsnoten zu DM 1.- 100
Ladennoten zu DM l.- kaufen und werden die Laden-Noten in den Laeden zum vollen
Nennwert in Zahlung geben. So ein Geschaeft macht jeder gern!
Sollten aber doch die Noten
fortfahren, billig angeboten zu werden, so ist natuerlich irgendetwas
"los". Es muss dann eine Ueberemission stattgefunden haben, z.B.
durch einen betruegerischen Laden oder durch einen Faelscher. Die werden dann
leicht aufzufinden sein, und zwar umso leichter, je kleiner das Umlaufsgebiet
der Noten ist.
Ueber
die Edelmetallproduktion nach 1492 wird folgendes bemerkt:
Die
Produktion war Jahrzehnte lang gering und betrug nur geringe Bruchteile eines
Gramms pro Kopf derjenigen Bevoelkerung der Erde, die damals Edelmetallwaehrung
besass. Eine erhebliche Erhoehung der Preise musste aber eintreten, als die
europaeische Landwirtschaft durch den von Kaiser Maximilian geschaffenen,
allgemeinen Landfrieden und aehnliche Massnahmen in anderen Staaten als
Deutschland sichere Landstrassen und Flusslaeufe erhielt, auf denen sie vorher
unerreichbare Absatzgebiete aufsuchen konnte. Ferner wurden die Strassen sehr
verbessert, und die Seestaedte bekaempften wirksamer als frueher die Piraten.
Dadurch wurde ein Absatz nach Flandern, Skandinavien und England moeglich, an
den vorher nicht zu denken war. Ferner:
Grosse
Teile der damaligen Volkswirtschaft gingen von der Naturalwirtschaft zur
Geldwirtschaft ueber. Dies musste an sich preiserhoehend wirken.
Der Generalstreik vor einigen Wochen in
Frankreich und besonders allgemein in Paris gibt Anlass zu folgenden
Bemerkungen:
Sehr zahlreiche Rentner
wollten in den Streiktagen ihre Rente abholen, mussten aber vor den
geschlossenen Postaemtern umkehren und hungrig nach Hause gehen, falls ihnen
nicht ein mitleidiger Ladeninhaber Kredit gab. Dieser Fall zeigt, wie
unzweckmaessig es ist, die Leistungen aus der Sozialversicherung von dem
Ermessen einiger, weniger Machthaber oder ihrer Einsichtslosigkeit abhaengig zu
machen. Ob die Machthaber Gewerkschaftsfuehrer sind, denen gehorcht wird, oder
ob sie maechtige Staatsbeamte sind, das bedeutet fuer die Leistungsempfaenger
(Rentner, Kranke, etc.) keinen Unterschied. Ein Anfang zu einer Verbesserung
koennte folgendermassen erreicht werden:
Die grossen Betriebe, die ja
den gruessten Teil der Sozialversicherungsleistungen aufbringen, fuehren
kuenftig die Betraege nicht mehr an die staatlichen Stellen ab, sondern sie
verwenden sie unmittelbar zu Auszahlungen an die Anspruchsberechtigten. Die
Auszahlungen geschehen durch das Lohnbuero. Dessen Arbeit wird dadurch
schaetzungsweise um 1/5 vergroessert. Diese zusaetzlichen Verwaltungskosten
sind aber in den "einbehaltenen" Beitraegen enthalten.
Die
Rentenfestsetzungsstellen werden die Anspruchsberechtigten den Betrieben
zuweisen wie sie sie jetzt der Post zuweisen.
Die Krankenversicherung wird
mehr und mehr auf Betriebskrankenkassen uebergehen.
…
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First published in: Ulrich von
Beckerath: Zur Freiheit, zum Frieden und zur Gerechtigkeit; Gesammelte Briefe,
Papiere, Notizen, Besprechungen. PEACE PLANS 428-467 (Mikrofiche), Berrima,
Australia, 1983. Page 2618.